Gewissensfrage – Kommentar

Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ Magazin Heft 37/2008
Die Gewissensfrage

»Ich gehe sehr gern auf Rock- und Jazzkonzerte, am liebsten vorn mitten rein in die Arena. Da ich mit 1,92 relativ groß bin, verstehe ich es, wenn sich Leute, die direkt hinter mir stehen, beschweren, sie würden nichts sehen. Ich müsste mich also, um niemandem die Sicht zu nehmen, nach hinten stellen. Andererseits erwerbe ich mit der Arenakarte doch das gleiche Recht wie alle anderen. Muss ich also ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich durch meine ›freie Platzwahl‹ anderen Menschen bewusst – wenngleich nicht mutwillig – im Weg stehe? FREDERIK J., Hamburg

Von Von Dr. Dr. Rainer Erlinger

Das müsste sich doch ganz einfach mit der goldenen Regel lösen lassen, möchte man meinen: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Keiner will statt Musikern nur Rücken sehen. Also ab nach hinten mit Ihnen!

Allerdings melden sich dann doch Zweifel: Natürlich wird jeder Kleinere wünschen, dass Größere nach hinten gehen. Nur: Ist diese Forderung auch berechtigt? Oder vertritt sie einseitig die Interessen der Kleineren auf Kosten der Größeren? Hat Ihr Wunsch, wie jeder andere vorn mittendrin das Geschehen zu genießen, nicht auch Gewicht? Wenn ja, welches? Und müsste sich nicht genauso Otto Normalgroßer umgekehrt in Ihre Rolle versetzen und Ihnen zuliebe klaglos Sichteinschränkungen hinnehmen?

Um derartige Probleme zu lösen, schlug der Oxforder Moralphilosoph Richard M. Hare einen Kunstgriff vor: Er führte eine dritte Person ein; und zwar so, dass derjenige, um dessen Handeln es geht, sich in der Mitte befindet. In Ihrem Fall würde das bedeuten, dass sich vor Sie ein echter Riese stellt, der Sie um dasselbe Maß überragt wie Sie Ihre Hinterleute.

Falls der Riese Ihretwegen das Feld räumen soll, müssen Sie das genauso wegen der Besucher hinter Ihnen – moralische Regeln gelten universal für alle gleich. In dieser Konstellation sind Sie vom Grundsatz »Große nach hinten oder an die Seite« gleichermaßen begünstigt und belastet, können somit vergleichsweise objektiv entscheiden.

Nun vor die Wahl gestellt, mit den Schultern des Riesen vor der Nase nichts zu sehen oder zusammen mit ihm weiter hinten nicht ganz so optimal zu stehen, werden Sie vermutlich Zweiteres bevorzugen: Unterm Strich ist die Einschränkung geringer. Nach dieser Erkenntnis können Sie den Dritten wieder nach Hause schicken. Denn die gefundene Interessenabwägung kann nicht anders ausfallen, wenn sich Vor- und Nachteile wieder auf zwei Personen verteilen.

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Lieber Herr Dr. Dr. Erlinger,

zum ersten Mal kann ich Ihnen nicht ganz zustimmen, was mich sogar etwas wundert, da Ihre Stellungnahmen immer sehr umsichtig und ausgegoren sind. Daher erlaube ich mir heute etwas zu ergänzen.
Auch die heutige Antwort, einen gedachten dritten hinzuzuziehen passt grundsätzlich, da dies der Anschaulichkeit dient. Bei der abschließenden Bewertung jedoch scheint mir die kleinste der drei Personen etwas vergessen worden zu sein. Möchte denn diese tatsächlich beanspruchen, dass einer, der lediglich von Wuchs größer ist, schlechter sieht? Müssen sich am Ende alle hinter die kleinste Person stellen? Was, wenn diese gar nicht vorne stehen will? Vielleicht ist sie so klein, dass sie ein paar Schritte zurücktreten muss, um einigermaßen auf die Bühne hinauf sehen zu können. Was, wenn eine sehr große Person einen sehr kleinen Partner hat? Dann hat die kleine echt Pech mit der großen…

Müsste schließlich in dem Dreipersonenbeispiel nicht unser 1,92 Mann als durchschnittsgroßer die Norm bilden und hätte freie Platzwahl?

Oder anders gefragt, darf die bloße Körpergröße, jemandem zum Nachteil gereichen? Unabhängig davon, ob er groß oder klein ist.

Die Diskussion dürfte uferlos werden, wenn wir eine konkrete Lösung anstreben. Denn ab welcher Körpergröße gilt man als groß und muss sich der Regel unterwerfen. Welche ist die Normalgröße? Wieviele Meter weiter hinten muss ich pro Zentimeter den ich die Normgröße überrage stehen?

Damit sollte meines Erachtens deutlich geworden sein, dass die „entweder oder“-Lösung sehr hart ist und vielleicht so nicht erforderlich.

Zur Vermittlung möchte ich folgendes skizzieren.
Leute mit stark sichtbehinderndem Körperbau oder Haupthaar wissen dies und sollten sich mit Augenmaß eingliedern. Nicht etwa als letzte kommen und sich mittenrein stellen! Vielleicht auch nicht in die Mitte der ersten Reihe, auch wenn sie zuerst da sind. Aber irgendwann ist auch Schluss und wenn noch fünf kleine Personen kurz vor Konzertbeginn erscheinen.
Im Übrigen bewegt sich ja so eine Menge während des Konzertes auch, dann kann man kleinere Leute auch mal vor sich lassen, auch wenn man dadurch 30 Zentimeter weiter nach hinten muss.
Hier hängt vieles von den konkreten Umständen ab.
Wer dies Augenmaß jedoch absolut nicht besitzt, der stelle sich nur vor, was er täte, wenn quasi er selbst vor sich stünde, beziehungsweise sich vor sich gestellt hätte, als er sich hinstellte. Welche Handlungsalternativen blieben ihm dann?
So gesehen ist der Kunstgriff Richard M. Hare bei diesem allemal schwer zu fassenden Beispiel Stehkonzert, wohl als ultima ratio, nicht als Patentlösung anzusehen.

Schöne Grüße und bitte noch viele tolle Abwägungen
Andreas Sporin

http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/26381

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